Das Böse


Meine Damen und Herren, 

Das Böse ist immer und überall  –  Erinnern Sie sich an den Hit der „Ersten Allgemeinen Verunsicherung“ vor circa dreißig Jahren? Etwa hundert Jahre zuvor erinnerte Charles Baudelaire seine Zeitgenossen an die verleugnete Allgegenwart des Bösen mit dem Satz: „Das Böse schläft in jedem von uns.“


Bedeutet vom Bösen zu sprechen, von der Gefährlichkeit des Menschen zu reden? Sie und ich… eigentlich sind wir doch alle nicht böse. Wir denken human, viele von uns sind mehr oder weniger religiös und führen ein einigermaßen rechtschaffenes Leben mit nicht nur zehn Geboten, sondern auch unzähligen Geboten mehr, die uns nach unserem  bürgerlichen Gesetzbuch vorgegeben sind. Wir halten uns daran. Also sind wir eigentlich gut. Weitgehend. Jedenfalls bringen wir keinen um. Vielleicht ein bisschen Steuern hinterziehen, naja… mal bei Rot über die Ampel oder zu schnell… oder gelegentlich einen Seitensprung… oder… oder… oder… Doch das richtig Böse hat mit uns nichts zu tun. Oder etwa doch?


Sprachgeschichtlich bedeutet Erbosen/Erzürnen nämlich: gering, wertlos, schlecht reden, schlecht werden oder -handeln.  Im germanischen  ist es eng verwandt mit "Baus": Bausch, Busen, Beule und pusten = stolz, heftig aufgeblasen, geschwollen.  Aber das Böse ist mehr als Aufgeblasenheit, schlecht reden oder handeln und mehr als die Abwesenheit von Gutem. Das Böse existierte, bevor wir es als solches benennen konnten.


Und wie kam es in unsere Welt? Mit Eva …!? Das hätten Sie gerne, meine Herren!   Weil das Ihre Geschlechtsgenossen schon ganz früh ins Buch der Bücher geschrieben haben, glaubten bis heute Generationen, dass die Frau das Böse in die Welt und die Vertreibung aus dem Paradies bewirkt hat. Kürzlich las ich in der ZEIT: Achtzig Prozent aller Amerikaner glauben angeblich immer noch an die biblisch erzählte Form der Schöpfung, samt Vertreibung. Heute noch! Eva -  die Frau ist es nicht mehr, sagt die moderne Theologie. Das Böse ist die Verführung. Der Mensch kann Ja oder Nein sagen zu Gott als Sinnbild des Geordneten, Guten oder zum ungeordneten Chaos, dem Bösen.


Unsere Neurobiologen und die Hirnforscher dagegen sind jedoch noch nicht fertig mit ihren Studien darüber, ob wir uns überhaupt entscheiden können, weil wir vollkommen determiniert unserer Prägung unterliegen. Sie fragen, ob wir möglicherweise doch einen freien Willen entwickeln können oder mindestens eine kleine Wahl zur freien Entscheidung haben. Und was diese ausmacht.

Wer von Ihnen nach der Moderation hier im Saal den Film „Das radikale Böse“  ansehen wird, erfährt, wie intelligente, gut erzogene deutsche Jungpolizisten zur SS-Truppe verführt wurden und weit im Osten Europas - gebunden an ihre Gruppe- mörderische Befehle befolgten. Nur einer hat sich den Befehlen widersetzt.  Hatten sich die andern alle erst einmal ans Töten gewöhnt, fühlten sie sich als Elite, die auserwählt war zur tausendfachen Erschießung von Zivillisten, jüdischen Frauen und Kindern. Fern ihrer heimatlichen Kultur unterdrückten diese Männer das eigene Nachdenken und missachteten ihre eigenen körperlichen Anzeichen der Abscheu vor ihrem Tun.


Für Kindersoldaten aus dem Kongo wurden Kriegsdienst und Töten im zarten Alter zur „Kultur“.  Abscheu und Nachdenken kam gar nicht erst auf. In der Dokumentation „Täter ohne Reue“ befragten Forscher ehemalige Kindersoldaten  zu deren Vergangenheit, als diese längst in beruflichen Internaten zu Handwerkern umerzogen worden waren. Und sie erfuhren von ihnen: „Wir würden lieber wieder herum ziehen. Wir vermissen das Töten.“


Als wir uns vor einem Jahr für dieses Thema entschieden haben, fanden wir in unserer zeitgenössischen deutschen Literatur,  dass das Böse vorwiegend im Kriminalroman vorkommt. Ein boomendes Genre, welches wir für heute Abend etwas beiseite ließen.


Wir wälzten uns durch viel Böses in älteren Büchern und stießen auf ein Buch von Horst Günther über „Das Erdbeben von Lissabon“. 1755 hatte es in Europa tief einschneidend unser Denken beeinflusst. Dieses Erdbeben brach an Allerheiligen aus, als alle Menschen in den Kathedralen und Kirchen beteten. In wenigen Minuten wurden Tausende Menschen verschüttet. Wirtschaftliche, politische, aber vor allem geologische Auswirkungen wurden auf dem ganzen Kontinent wahrgenommen.  Dazu gesellten sich Naturphänomene, - sogar bis nach Mecklenburg Vorpommern, wo sich die Flüsse mit Eisenoxyd rot färbten, die den naturwissenschaftlich noch wenig gebildeten Mitteleuropäern Rätsel aufgaben. Die Menschen in unserem Kulturkreis fragten sich, wie Gott der Allmächtige das Verheerende zulassen konnte. Wie war so ein Schreckensszenario zu erklären?  Ist das Böse Chaos, Zerstörung, Unordnung?


In der Folge versuchten Gelehrte, Schriftsteller und Philosophen sich den Fragen mit der Aufklärung zuzuwenden. Johann  Wolfgang von Goethe lässt Mephisto in seinem Faust sagen: „Ich bin der Geist, der stets verneint - und das mit Recht, denn alles, was entsteht, - ist wert, dass es zugrunde geht.“ Und weiter heißt es: „Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs war. Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar.“

Denken wir zurück, an den Beginn von menschlichem Leben. Frühe Menschen und Siedler waren All-Eins mit der Natur und darin  ihrer Gewalt ausgeliefert. „Somit ist der Grundstock allen Lebens und Daseins das Schreckliche“, schreibt Friedrich E. D. Schleiermacher. Dem trat der Mensch mit Veredelung entgegen, um sich Leben und Überleben zu sichern. Die Natur wurde belauscht, nutzbar gemacht, um einen lebenssicheren Raum zu schaffen. Damit begann Kultur im ursprünglichen Sinn, d.h. der Versuch des Menschen, die Natur zu beherrschen, ihr mit seiner Kreativität, seine Kreationen entgegen zu setzen. Doch die Natur zeigte unserer Spezies immer wieder ihre Grenzen.


In frühen Mythen und Naturreligionen begann der Mensch die Macht der Natur als Gottheiten zu personifizieren, die er benennen, sie anrufen und bitten konnte. Denn der Mensch wollte gut sein zu seiner Sippe. Und weil die Götter (Naturmächte) nicht immer gut (zum Menschen) waren,  sollten diese Mächte gnädig gestimmt werden. Es wurde gefeilscht und geopfert – alles, was es gab Pflanzen, Tiere und Menschen. Aber kein noch so großes Opfer hat es vermocht das Böse, die Naturgewalt  gänzlich aus der Welt zu schaffen. 


Ein Gott musste erdacht werden, einer nach dem Bild des Menschen. Einer, mit dem sie kommunizieren konnten. Einer, der über alle Götter erhaben war, über deren  böse Taten. Einer, der alle Macht hatte. So hielt ein allmächtiger Gott Einzug in das Denken des Menschen, der sich mit ihm verbündete und Gesetze erließ. Seit dem entfernt sich der Mensch mehr und mehr von der Natur. Im Verbund mit dem Allmächtigen sollte Gott das Böse, den personifizierten Satan, abwehren.


Die Hölle musste her. Ein Ort wo das Böse eine Heimat bekam. Das ist nur logisch:  wer die Gesetze nicht befolgt, der sollte darin braten. Einem meiner Söhne wurde noch in den achtziger Jahren in der Grundschule beigebracht, dass rothaarige Kinder schmoren müssten. Mit glühenden Riesenlöffeln in ihren Mündern... Die Hölle als Metapher? Als vervollständigte Komponente zum Guten?


In Dantes Göttlicher Komödie steht über dem Höllentor geschrieben: „Die ihr mich durchschreitet, lasset alle Hoffnung fahren…“ Das Böse scheint das in sich Hoffnungslose zu sein. Gebiert es nicht die Rache? Weil wir ohne Hoffnung, ohne Aussicht darauf, dass unser Heute  morgen auch anders sein könnte, nicht leben, nicht denken können, darum ist unser Denken und Handeln auf die Zukunft ausgerichtet und erfährt von dort gewissermaßen seine Perspektive.


Strafe und Vergeben lassen mehr hoffen, mehr Zukunft als Rache. Und weil die Vernunft gelernt hat, dass Zukunft im irdischen Leben endet, also nicht möglich ist, wurde die Hoffnung, auf den Himmel als paradiesische  Belohnung im Jenseits erdacht. So konnte das Böse Legitimation sein für höherrangige Ziele, denen gegenüber andere Lebenswelten herabgestuft werden. Denken wir an die Missionierung und den Genozid an hunderttausenden American Natives,  sowie an die unauffälligen, jungen Akademiker, die überhaupt nicht gewissenlos, unkultiviert oder moralisch skrupellos, den 11. September inszenierten. Sie hatten sich selbst hochmoralisch der Seite des Guten zugeordnet: Tugendhaft und Gerechtigkeit kontra Heuchelei und Boshaftigkeit.


Im Mantel der Moral kippt das verabsolutierte Gute, unweigerlich in das Böse. Die Zucht zu Gehorsam, Ordnung, Pflichtgefühl kann  Monster gebären. Gut und Böse sind somit keine absoluten Größen, sondern stets abhängig von einem  kulturellen Koordinatensystem, das unterschiedlich ist - und stets wandelbar bleibt.


Von all diesen Denkmustern und Erfahrungen geprägt,  stehen wir heute in der Welt mit Gesetzen und Moral, die in unserem Verständnis das Gute vom Bösen abgrenzen, die jedoch in anderen Kulturen nicht gleichbedeutend  sind oder ebenso verstanden werden. In unserem neuzeitlichen Denken beziehen wir das Böse kaum noch auf  die Gewalt von Natur, obwohl sie auch in uns genfixiert ist, sondern im Allgemeinen beziehen wir uns dabei auf die Gefährlichkeit menschlichen Handelns, dem meistens Irrtum zugrunde liegt, - Dummheit, Gier, Gedankenlosigkeit oder Kulturlosigkeit.


Das Böse entzieht sich uns. Wir können es nicht an der Wurzel packen. Wir sind geneigt, das Böse als willkürlich und plötzlich daherkommend aufzufassen, als Zerstörung einer bewährten Ordnung. Wir verstehen es von dem her, was es vernichtet. Aber unterschätzen wir es damit nicht? Viele glauben nicht mehr an den Allmächtigen, sondern an die Allmacht unserer selbst geschaffenen Technik. Doch manch einer beginnt schon zu zweifeln…


Das Böse geht mit der Zeit.  Vielleicht müssen wir das Böse anders denken lernen. Im ersten Brief an die Tessaloniker, Vers 5, schreibt Paulus: „Unterdrückt nicht den Geist. Alles jedoch prüfet.“  Meine Damen und Herren, es lohnt sich für das eigene Gewissen, zu reflektieren,  zu hinterfragen – und vor allem das Nachdenken nicht zu unterdrücken. In diesem Sinn wünsche ich uns allen einen spannenden, geistreichen  Abend.